Toleranz. Interdisziplinäre Zugänge zu einem Kernthema der Menschheitsgeschichte

Toleranz. Interdisziplinäre Zugänge zu einem Kernthema der Menschheitsgeschichte

Organisatoren
Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Stadt Friedrichstadt; Gesellschaft für Friedrichstädter Stadtgeschichte; Schleswig-Holsteinische Universitätsgesellschaft; Landesbeauftragter für politische Bildung
Ort
Friedrichstadt und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.10.2021 - 15.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Franziska Lehnart / Isabell Kugel, Abteilung für Regionalgeschichte, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Im Jahr 2021 jährte sich die Gründung der Toleranzstadt Friedrichstadt zum 400. Mal. Bei der Tagung fanden sich aus diesem Anlass Referierende historischer, juristischer sowie psychologischer Fachgebiete aus Deutschland und Österreich zusammen, um in der ehemaligen Synagoge in Friedrichstadt ihre Erkenntnisse des Toleranzbegriffs darzulegen. Die Grußworte richteten Gesche Krause als Vorsitzende des Kulturausschusses Friedrichstadt, Wolfgang Duschl (Kiel) als Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft sowie Adolf Kellermann von deren Sektion in Friedrichstadt an das Auditorium und boten zugleich eine Übersicht des Tagungsprogramms. Die Vorträge waren chronologisch angeordnet, sodass sich eine Zeitreise zum Toleranzbegriff von der Prähistorie bis in die Gegenwart ergab.

RÜDIGER KELM (Albersdorf) sprach über archäologische Quellen und deren Potenziale, tolerantes Verhalten in vergangenen Gesellschaften aufzudecken. Er betonte, dass der Begriff der Toleranz bereits innerhalb prähistorischer archäologischer Funde mit Blick auf deren prozessualistisch-strukturalistische Interpretationen einen hohen Stellenwert habe. Diese Annahme unterstrich er mit Verweis auf die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kulturtechniken und das Nebeneinander verschiedener Riten im gesellschaftlichen Leben, die einzig durch archäologische Funde belegt werden könnten. Es lässt sich festhalten, dass eine Aufarbeitung des Toleranzbegriffs anhand archäologischer Funde und Quellen möglich ist und bedeutende Impulse geben kann, die sicherlich auch in zukünftigen Forschungen eine entscheidende Bedeutung haben werden.

SEBASTIAN SCHMIDT-HOFNER (Tübingen) gab einen Einblick in die Toleranz bzw. Intoleranz im spätmittelalterlichen Rom. Beginnend mit dem Mailänder Edikt des Jahres 313, stellte er die staatlicherseits tolerierte und geförderte Christenverfolgung dar. Daran anknüpfend machte er den Wandel der Verfolgungen im Verlauf des „Siegeszuges des Christentums“ im Abendland bis zu einer staatlich getragenen Verfolgung der Polytheisten deutlich. Darauffolgend skizzierte der Referent einen Gewaltdiskurs, der exzessive Gewaltanwendungen gegen die aus christlicher Sicht zu Heiden gewordenen Anhänger der alten Kulte, aber auch gegen Heterodoxien beinhaltete. Dadurch wurde deutlich, dass der universelle Wahrheitsanspruch des Christentums unvereinbar mit der Flexibilität und der Integration der polytheistischen Religionen war. Anhand dieser spätmittelalterlichen Darstellungen von Toleranz bzw. Intoleranz in Rom wurde illustriert, dass Toleranz auch die Funktion eines Ausdrucksmittels politischer Macht übernehmen konnte.

CHRISTIAN HOFFARTH (Kiel) schloss mit einem Vortrag über Toleranz im Kontext des christlichen Leidensgebots im lateineuropäischen Mittelalter an, das er anhand des Diskurses über ungerechte Herrschaft behandelte. Die Existenz Ungläubiger und Andersgläubiger würde seit der Zeit der Kirchenväter als Prüfung für die Christenheit gedeutet, deren Bande durch das Erdulden der Andersartigen gestärkt würden. Hoffarth konstatierte darüber hinaus, dass Gleiches auch für die Tyrannei in politischer Hinsicht gelte: Ungerechte Herrscher, die die Maxime von Frieden und Recht nach innen missachteten, müssten aus denselben Gründen mit Geduld ertragen werden, da ihre Herrschaft durch Gott legitimiert seien.

Im öffentlichen Abendvortag skizzierte OLIVER AUGE (Kiel) die Gründungsgeschichte der Stadt Friedrichstadt mit Fokus auf die Ökonomie und bettete das Toleranz-Thema in diesen Rahmen ein. Anhand der Stadtplanung und der Beweggründe des Gottorfer Herzogs Friedrich III., selbst lutherisch-calvinistisch erzogen und Schutzgebender für Religionsflüchtlinge unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Herkunft, verdeutlichte Auge die besondere multireligiöse Situation. Dabei stellte er heraus, dass die zugestandene Religionsfreiheit dennoch teilweise auf Pragmatismus beruhte. Die Duldung anderer Religionsgemeinschaften sei für eine funktionierende Wirtschaft förderlich gewesen und habe bestimmte Rechte und Gesetze zum Beispiel im Handel hervorgebracht. Dadurch sei ein neues qualitatives Niveau der Toleranzidee erreicht worden. Dennoch soll Segregation das Alltagsleben in Friedrichstadt geprägt haben. Eine tatsächliche Vermischung der unterschiedlichen Glaubensanhänger blieb aus. Daher könne von einem modernen Toleranzverständnis als inklusives gesellschaftliches Ordnungsprinzip nicht ausgegangen werden.

JOHANNES EHMANN (Heidelberg) warf einen theologischen Blick auf das Tagungsthema, denn sein Augenmerk galt Martin Luthers Toleranzverständnis. Für Luther waren das Erkennen der christlichen Heilslehre und der Glaube an Jesus Christus nicht mit Zwang verbunden, sondern mussten vom Gläubigen selbst erkannt werden. Toleranz konnte aber für ihn, der an die Möglichkeit zur Überwindung des Glaubenskonfliktes glaubte, nur eine Duldung des theologisch Anderen auf Zeit sein. Diese Toleranz habe ihre Grenzen gehabt, wie Ehmann zeigte, indem er exemplarisch darlegte, dass Luther selbst die Verfolgung und Hinrichtung von Täufern befürwortete, weil er in ihnen eine politische Gefahr für das Gemeinwesen zu erkennen glaubte. Die Intoleranz Luthers sei für ihn eine Notwendigkeit gewesen, um den Frieden zu bewahren. Im weiteren Verlauf führte Ehmann alternative Definitionen der Toleranz an, die sich als eine Erduldung auf Zeit zur Friedenswahrung herausstellten.

ALBRECHT BEUTEL (Münster) knüpfte an die theologische Perspektive an und stellte Toleranzdiskurse im Zeitalter der Aufklärung dar. Dabei konzentrierte er sich auf innerprotestantische Konflikte, aus denen sich zugleich transkonfessionelle und transreligiöse Diskussionen entwickelten. Das aufklärerische Denken führte mitunter dazu, dass biblische Einzelpassagen der Vernunft wegen kritisch hinterfragt und gegebenenfalls als Irrlehren abgetan wurden. Beutel beleuchtete Toleranz sowohl als duldendes als auch als stillschweigendes Konstrukt, das als Ausweg betrachtet werden konnte, um den Glaubenskonflikt zu ertragen.

Um Einsichten in den Umgang mit Multikulturalität und -konfessionalität im polnisch-litauischen Verbundsstaat der Frühen Neuzeit ging es PAUL SRODECKI (Kiel). Nach der Skizzierung des historischen Hintergrundes des polnischen Königreiches und des multikonfessionellen Nebeneinanders von Lutheranern, Reformierten, Katholiken und Orthodoxen in der polnisch-litauischen Union verdeutlichte er die Notwendigkeit der Wahrung religiöser Freiheitsrechte und die daraus entstehende Unabdingbarkeit auf eine Existenz einer gewissen ethnischen Toleranz. Doch während die Adeligen religiöse Freiheiten hatten wie die, eine Konfession frei wählen zu können, wurde dies der Bauernschaft verwehrt. Srodecki definierte Toleranz daher als ein soziales Konstrukt innerhalb eines Gesellschaftssystems, das sich durch eine innere Intoleranz ausgezeichnet habe. Als Vergleich zu Friedrichstadt führte er die Plan- und Idealstadt Zamość an, in der es ähnlich wie in Friedrichstadt mehrere Konfessionen gab. Srodecki betonte den wirtschaftlichen Pragmatismus und die Segregation der Bevölkerung und beschrieb das Zusammenleben als salad bowl. Dabei lebten die verschiedenen Konfessionen zwar untereinander, hielten aber an ihrer Kultur und Identität fest.

Die Stadtführung durch Friedrichstadt mit der Besichtigung der Remonstrantenkirche und des Stadtmuseums, geleitet von CHRISTIANE THOMSEN (Friedrichstadt), gab den Tagungsgästen einen Einblick in das Zusammenleben unterschiedlicher Konfessionen und Lebensarten vor Ort.

In seinem Abendvortrag stellte der Sozialpsychologe BERND SIMON (Kiel) das von ihm und seinen Kolleg:innen an der Kieler Forschungsstelle für Toleranz entwickelte Zwei-Komponenten-Modell der Toleranz vor. Die Basis des Modells ist folgende Gleichung: Ablehnung + Respekt (Gleichheitsanerkennung) = Toleranz. Toleranz sei die durch Respekt gezähmte Ablehnung des andersartigen Gleichen, erläuterte Simon. Damit beleuchtete auch er eine neue Betrachtungsweise eines weitumfassenden Toleranzbegriffs, der im Kern doch wieder auf die Erduldung oder gar das Ertragen eines Andersseins hinausläuft. Simons Beitrag stand beispielhaft für die Interdisziplinarität des Symposiums und die weitreichende Bedeutsamkeit des Toleranzbegriffs.

Wie gelebte Toleranz im Alltag des 19. Jahrhunderts praktisch aussehen konnte, präsentierte DOROTHEA PARAK (Berlin) in ihrem Vortrag über das Alltagsleben von Christen und Juden in Friedrichstadt. Anhand ausgewählter Exempel aus dem alltäglichen Miteinander in der sogenannten Toleranzstadt zeigte Parak, dass Toleranz nicht Harmonie bedeutete, sondern meist einem wirtschaftlichen Pragmatismus glich. Dennoch gab es Ausnahmen von diesem Verhalten, wie die Ehrdarbietung an Feiertagen gegenüber den anderen Religionen. Auch kam es in manchen Kontaktbereichen wie Vereinen und Schulen zu einer Annährung der Konfessionen, wobei stets die eigene Religion beibehalten wurde. Diese These unterstrich Parak, indem sie auf das Stadtbild von Friedrichstadt verwies, das keine offensichtliche Segregation in Form von Viertelbildungen zeigte.

MARKUS KOTZUR (Hamburg) eröffnete eine weitere Perspektive der Tagung, indem er sich der Materie von rechtswissenschaftlicher Seite mit einem Vortrag über Toleranzdenken im Völkerrecht annäherte. Zunächst definierte er Toleranz als ein heterogenes Konstrukt, das nicht per se positiv besetzt sei. Dass Erdulden und Ertragen die wichtigsten Charakteristika der gelebten Toleranz seien, leitete Kotzur vom lateinischen Begriff tolerare – ertragen, erdulden ab. Daran anknüpfend führte er Beispiele für das Aushalten und Ertragen der Andersartigkeit in der Gegenwart an und pointierte, dass die Grenzen der Toleranz durch eine Verletzung der Menschenrechte und der Gerechtigkeit erreicht und überschritten werden können. Daher diene Toleranz als Instrument rechtlicher Ordnungsbildung angesichts kultureller Diversität, sodass ein Aushalten politischer Differenzen als Stärke einer demokratischen Gesellschaft betrachtet werden sollte. Die eurozentristische Perspektive auf Toleranz sei jedoch kritisch zu hinterfragen, und so sprach der Referent sich ausdrücklich dafür aus, sie durch außereuropäische Definitionen zu ergänzen. Denn eine globale und einheitliche Definition von Toleranz und ein einheitliches tolerantes Verhalten im internationalen Miteinander kann nur im Austausch verschiedener Kulturen und Konfessionen stattfinden.

Auch ELISABETH HOLZLEITHNER (Wien) referierte über Toleranz im Zusammenhang mit Menschenrechten. Ihre juristische Perspektive war von kulturwissenschaftlichen Einflüssen geprägt. Menschenrechte und Toleranz stünden seit jeher in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, wobei die Menschenrechte als Antwort auf Herausforderungen eines religiösen, ethnischen, kulturellen, weltanschaulichen und politischen Pluralismus zu verstehen seien. Toleranz hingegen sei eine mühselig errungene Vorläuferin der Menschenrechte, die auf der Duldung einer Koexistenz basiere. Der Grundgedanke, dass jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung habe, rückte immer wieder in den Vordergrund. Dass sich der Toleranzbegriff im stetigen Prozess befindet, wurde in Holzleithners Ausführungen zu Rück- und Fortschritten in der Entwicklung über Jahrhunderte hinweg deutlich.

Zum Abschluss des Symposiums hob STEFAN BRENNER (Kiel) in seiner Zusammenfassung die Multiperspektivität und Interdisziplinarität der Beiträge sowie die Herausforderung des Themas Toleranz in den unterschiedlichsten Fachbereichen hervor. Aufgrund ihrer Diversität gab er ein chronologisches Resümee, in dem er die entstandenen übergeordneten Themen miteinander verband. Er betonte die begriffliche Unschärfe von Toleranz, die in unterschiedlichen und persönlichen Definitionen der Referierenden deutlich wurde. Während der Tagung sei der Versuch unternommen worden, nach einer universellen Bedeutung von Toleranz zu suchen, die alle heterogenen Bereiche erfasse. Dass dies ein schwieriges und strittiges Unterfangen darstelle, bezog Brenner auch auf die rege Diskussionsbereitschaft während der Tagung. Letztlich hielt er fest, dass Toleranz die Menschheit seit jeher beschäftige und im Miteinander herausfordere, sei es im religiösen, kulturellen oder auch rechtlichen Kontext.

Aus der Perspektive aller Beteiligten war die Tagung sehr lehrreich. Neben vielen unterschiedlichen Definitionen von Toleranz wurden auch verschiedene Bereiche und Konflikträume sowohl in vergangenen als auch in gegenwärtigen Situationen tangiert. Doch beschrieben alle Vorträge Toleranz als ein Aushalten, Ertragen, Erdulden und Gewährenlassen von Andersartigem, z.B. Wertesystemen, Bräuchen, Überzeugungen und Sitten. Doch wurde im Toleranzdiskurs erkennbar, dass Respekt und Ablehnung im Zusammenhang des toleranten bzw. intoleranten Verhaltens eine wichtige Rolle spielen, weshalb Toleranz ohne diese beiden Komponenten nicht definiert werden könne. Vor allem die Interdisziplinarität und die daraus entstandene Multiperspektivität prägten die Tagung und das Verständnis von Toleranz. Es kann festgehalten werden, dass Toleranz nicht nur eine zentrale anthropologische Konstante im Umgang von Menschen untereinander und damit eine wesentliche Voraussetzung für friedliches gesellschaftliches Zusammenleben überhaupt ist, sondern auch das Schlüsselwort für das Verständnis moderner westlicher Gesellschaften. Die Beiträge der Tagung werden in der wissenschaftlichen Buchreihe der Kieler Schriften zur Regionalgeschichte veröffentlicht.

Konferenzübersicht:

Gesche Krause (Friedrichstadt), Oliver Auge (Kiel), Wolfgang Duschl (Kiel), Hauke Petersen (Kiel), Christiane Thomsen (Friedrichstadt): Begrüßung

Rüdiger Kelm (Albersdorf): Verborgen, aber nicht unsichtbar – Gedanken zu tolerantem Verhalten in historischen Gesellschaften anhand archäologischer Quellen

Sebastian Schmidt-Hofner (Tübingen): Toleranz als Risiko im späten Rom

Christian Hoffarth (Kiel): Toleranz der Tyrannei? Der Umgang mit ungerechter Herrschaft im mittelalterlichen Denken

Öffentlicher Abendvortrag

Oliver Auge (Kiel): Toleranz und Ökonomie – das Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein in der frühen Neuzeit

Johannes Ehmann (Heidelberg): Toleranz – ein Blick auf und mit Martin Luther

Albrecht Beutel (Münster): Theologische Toleranzdiskurse im Zeitalter der Aufklärung

Paul Srodecki (Kiel): Zwischen Toleranz und Verfolgung. Die adelige aurea libertas und der Umgang mit Multikulturalität und -konfessionalität im polnisch-litauischen Verbundstaat der Frühen Neuzeit

Öffentlicher Abendvortrag

Bernd Simon (Kiel): Zumutungen der Vielfalt – Ablehnung, Respekt, Toleranz

Dorothea Parak (Berlin): Die Rolle der Toleranz für das Alltagsleben der jüdischen und christlichen Friedrichstädter:innen im 19. Jahrhundert

Markus Kotzur (Hamburg): Toleranzdenken im Völkerrecht

Elisabeth Holzleithner (Wien): Eine produktive Wiedergängerin – Toleranz im Gefüge der Menschenrechte

Stefan Brenner (Kiel): Zusammenfassung